Der Wahnsinn des Odyseus


odysseus

               Odysseus zieht in den Krieg(*)


An einem kalten Herbsttag des Jahres 1260 v.Chr. lenkten kräftige Ruderschläge ein mykenisches Kriegsschiff in den entvölkerten Hafen Phorkys der Insel Ithaka. In Bronze und Leder gepanzert, betrat Großkönig Agamemnon das Eiland. Ihm zur Seite schritt Palamedes, des Nauplios’ kluger Sohn, den die Achäer mit Recht als Erfinder der Buchstaben, Würfel und Brettspiele preisen.

Die Hafenmeisterei schien verlassen; vor dem unbemannten Verschlag der Schildwache paradierten Schafe auf und ab. Der Atride war wohl auf einen derartigen Empfang nicht vorbereitet gewesen. Um Rat heischend, blickte er zu seinem gewappneten Gefährten hinüber, worauf jener – ein Freund der klaren und freien Rede – die Zügel seiner Zunge löste:

             »Dies also«, hub an Palamedes im wirbelnden Takt der Daktylen,

             »ist Ithakas kärglicher Felsen, die Heimstatt des Helden Odysseus.

              Welch Glück diesen Gau zu verlassen, der Armut Gestade zu meiden,

              In Trojas Geviert zu erringen des Ruhmes unsterblichen Kranz.

              Was einstmals der Freier gelobet, soll nunmehr in Ehren er halten,

              Zur Pflicht wird Helenens Befreiung durch uns’ren Gestellungsbefehl.«

Bei aller Vorliebe, die die Achäer – zumindest in ihren Epen – für die Kunst des Verseschmiedens offenbarten, war die Situation wohl zu verfahren, um Agamemnon noch weitere zweihebige Senkungen zuzumuten. Paris hatte die schöne Helena – eine Claudia Schiffer der Antike – nach Troja entführt. Diese freche Besitzstörung konnte sich ihr gehörnter Gemahl nicht gefallen lassen. Und da einstmals die Freier um die Hand der Schönsten den feierlichen Eid abzulegen hatten, dass sie dem Auserwählten beistehen würden, wenn jemand ihm die Frau streitig machen wolle, hatte sich in kürzester Zeit ein erkleckliches Aufgebot für den Rachefeldzug zusammengefunden.

Nur wenige schienen den Ruf zu den Waffen überhören zu wollen. Einer der Wenigen, Odysseus, ließ gar drei dringliche Botschaften des achäischen Generalstabes unbeantwortet. Gerüchten zufolge, hatte ihm das Orakel von Delphi für den Fall seiner Kriegsteilnahme einen zwanzigjährigen Aufenthalt in der Fremde prophezeit. Nun war Agamemnon, seines Zeichens designierter Feldherr, in Ithaka gelandet,um den Wehrpflichtigen höchstpersönlich von der allgemeinen Mobilmachung in Kenntnis zu setzen.

Die mykenische Abordnung fand die Insel in einem desolaten Zustand vor. Ein besonderer Jahrgang verdarb ungelesen in den Weinbergen; der Königspalast auf dem Berge Aetos beherbergte nur das Gesinde. Beim Abstieg längs des westlichen Abhanges kam den Bewaffneten, tränenaufgelöst und ihren Säugling Telemachos in den Armen haltend, Penelope des Odysseus Gespons entgegen.

»Wo ist dein Mann, Weib?«, herrschte Agamemnon sie an. Ithakas Königin wies ihm erhobenen Hauptes den Weg zu einem einsamen Strand, woselbst eine kräftige Gestalt in ungleichmäßigen Mäanderlinien den lockeren Sand durchfurchte. Pferd und Ochse waren vor dem Pflug gespannt; der Pflüger trug einen spitzen Hut und säte unablässig Salz aus. Es war Odysseus, den die Götter offensichtlich mit Wahnsinn geschlagen hatten.

»Untauglich zum Dienst mit der Waffe«, bemerkte Agamemnon gequält. Da ergriff Palamedes den Säugling und legte ihn vor die Pflugschar in den Sand. Würde Odysseus wohl die Furche durch seinen Sohn hindurch ziehen?


   aus dem Seitensprung der Archaischen Mathematik  



 (*) ©  ERICH LESSING Culture and Fine Arts Archives

© Alexander Mehlmann 2015; alexander.mehlmann (at) tuwien.ac.at                                                                    Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz:  Verantwortlich für den Inhalt dieser  Webseiten: Alexander Mehlmann, Institut für Stochastik und Wirtschaftsmathematik der TU Wien, A-1040 Wien, Wiedner Hauptstraße 8/E105-4, Wien, Österreich. Der Gesetzgeber verlangt folgende rechtliche Klärung:  
Haftungsausschluss: Obwohl ständig Sorge getragen wird, die auf diesen Webseiten angeführten Informationen  vollständig und korrekt anzubieten,  so sind Irrtümer dennoch nicht ausgeschlossen, und es kann (soweit der Gesetzgeber dies zulässt) keine wie immer geartete Haftung für Schäden übernommen werden, die aufgrund der Benützung dieser Informationen entstanden sind.                                                                                                        Legal notice:  The author is anxious to  provide complete and adequate information on these webpages. However, errors can not always be avoided and therefore any  liabiliy  for  direct or indirect damage caused by using the afore mentioned information is excluded.